Allein die Erforschung und die Auseinandersetzung mit der individuellen Schuld des Angeklagten ist das erklärte Ziel eines Strafprozesses. Erhöhten Erwartungen der Opfer und der Öffentlichkeit hinsichtlich Aufklärung von Tatumständen und Wiedergutmachung von erlittenem Unrecht ist daher eine klare Absage zu erteilen. Der NSU-Prozess zeigt warum.
Lebenslange Haft für Beate Zschäpe
Anlässlich des heute ergangenen Urteils des Oberlandesgerichts (OLG) München gegen die im sog. Jahrhundert-Prozess angeklagte Beate Zschäpe lohnt es sich noch einmal an den Sinn und Zweck des Strafprozesses zu erinnern.
Das Oberlandesgericht (OLG) München hat Beate Zschäpe nach über 5 Jahren Verfahrensdauer des zehnfachen Mordes, des mehrfachen versuchten Mordes, des Raubüberfalls sowie der schweren Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für schuldig befunden und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Der Senat folgte damit im Wesentlichen dem Antrag der Bundesanwaltschaft und verurteilte Zschäpe, die an keinem der Tatorte selbst zugegen war, als Mittäterin an den Morden und Anschlägen des sog. "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Die gleichsam von der Bundesanwaltschaft geforderte anschließende Sicherungsverwahrung hat das Gericht unter der Leitung von Richter Manfred Götzl jedoch in seinem Urteil nicht angeordnet. Dogmatisch interessant dürfte vor allem die Begründung der Annahme einer Mittäterschaft Beate Zschäpes im Rahmen der einzelnen Taten i.S.v. § 25 II StGB sein.
Die Reaktionen auf das Urteil
Erwartungsgemäß wurde das Urteil von den Vertretern der Nebenklage gleichermaßen kritisiert wie begrüßt. Während der Strafausspruch weitestgehend Zustimmung fand, monierten die Anwälte der Angehörigen der Opfer vor allem, dass trotz des jahrelangen Prozesses die Verwicklung bzw. das Versagen der Ermittlungs- und Verfassungsschutzbehörden ebenso wenig aufgeklärt worden sei, wie die Frage, ob es neben den Angeklagten noch weitere Unterstützer des NSU-Trios gegeben habe.
Sinn und Zweck des Strafprozesses
So menschlich verständlich das Interesse der Opfer einer Straftat und deren Angehörigen an der umfassenden Aufklärung sämtlicher Tatumstände auch sein mag, im Gerichtssaal kann es allenfalls teilweise befriedigt werden.
Der Grund hierfür liegt im heute primär verfolgten Sinn und Zweck des Strafprozesses: Dem Anspruch die individuelle Schuld des Angeklagten, also die persönliche Vorwerfbarkeit der zur Last gelegten Tat, staatlich zu erörtern und abzuurteilen. Auch wenn neben diesem staatlichen Strafanspruchs noch weitere Ziele verfolgt werden, etwa die Schaffung von Rechtsfrieden durch die gerichtliche Entscheidung oder die Gewährung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, so sind diese dennoch nie geeignet dem Verfahren ein grundliegend anderes Gepräge aufzuzwingen. Vielmehr sind die verschiedenen Ziele des Strafverfahrens im Sinne einer praktischen Konkordanz von widerstreitenden Prinzipien höchsten Ranges miteinander in Einklang zu bringen. So hat das Opfer einer Straftat zwar grundsätzlich keinen verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf Strafverfolgung Dritter. Ausnahmsweise existiert aber ein Anspruch des Opfers auf effektive Strafverfolgung, wenn der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann.
Die Mitwirkungsbefugnisse des von der Tat Geschädigten oder dessen Hinterbliebenen im Strafprozess beschränken sich denn auch auf das Strafantragsrecht bei den Antragsdelikten (zB bei der fahrlässigen Körperverletzung, §§ 229, 230 StGB), das Privatklagerecht (§§ 374–394 StPO) und das Nebenklagerecht (§§ 395–402 StPO). Ferner kann das Opfer unter bestimmten Voraussetzungen eine Entschädigung im sog. Adhäsionsverfahren verlangen (§§ 403–406c StPO). Im Übrigen ist der Geschädigte nur Zeuge mit relativ wenigen eigenen prozessualen Rechten. So kann er das Strafverfahren zwar mittels einer Strafanzeige in Gang setzen (§ 158 StPO), ermittelt wird jedoch stets nur von Amts wegen (§ 160 I StPO).
Erhöhte Erwartungen schaden dem Rechtsstaat
Natürlich wissen das zumindest auch die Anwälte der Nebenklage im Prozess gegen Zschäpe und ihre Mitangeklagten. Ihre vor dem skizzierten Hintergrund zumindest teilweise ungerechtfertigt erscheinende Kritik an dem Verfahren vor dem OLG München und dessen Ausgang entspringt vor allem ihrer Rolle als Interessenvertreter der Opfer des NSU. Bei den journalistischen Prozessbegleitern ist der Beweggrund hingegen weniger klar.
Dem Rechtsstaat erweist jedenfalls derjenige einen Bärendienst, der unrealistische Erwartungen an einen Strafprozess und dessen "Leistungsfähigkeit" schürt. Wer seine Akzeptanz nicht unterminieren will, dem bleibt nichts anderes übrig als die Grenzen des Möglichen klar zu benennen. Auch und vielleicht gerade den Opfern gegenüber. Übertragen auf den NSU-Prozess bedeutet dies: Weder war es Aufgabe des Gerichts das staatliche Versagen von Behörden, noch die "ganze Wahrheit" im Bezug auf den NSU zu ermitteln. Dies jedenfalls müssen sich Richter Götzl und seine Kollegen nicht vorwerfen lassen.
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