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  • AutorenbildDaniel Canek Barrera Gonzalez

Jugendstrafrecht unter Druck

Aktualisiert: 18. Juli 2018

Mit stetiger Regelmäßigkeit wird eine Verschärfung des Jugendstrafrechts gefordert. Meist ausgelöst durch Einzeltaten. Wieso ist das so? Und was ist von solchen Forderungen zu halten? Ein Vergleich mit Lateinamerika.



Dem Anschein nach pflegen moderne Gesellschaften ungeachtet ihrer geographischen Verortung einen ziemlich ambivalenten Umgang mit ihren jugendlichen Mitgliedern[1]: Einerseits würde es kaum jemand wagen öffentlich Einwände gegen politische oder gesellschaftliche Bestrebungen vorzubringen, welche vornehmlich den Interessen junger Menschen zu dienen bestimmt sind und dergestalt als Direkt-Investition in die Zukunft einer Gesellschaft gelten dürfen. Andererseits zeigen sich Gesellschaften regelmäßig erstaunlich unversöhnlich und unnachgiebig, wenn es um die Verfehlungen Jugendlicher geht, besonders, wenn diese von einer gewissen Frequenz und Intensität geprägt sind. Es werden dann schnell Rufe nach „härteren“ Strafen für jugendliche Rechtsbrecher angesichts der angeblich nie dar gewesenen Quantität und Qualität der Verfehlungen laut. Vielen gilt denn auch die Jugendkriminalität als Gradmesser der Befindlichkeit der Jugend innerhalb einer Gesellschaft, und diese wiederum als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse schlechthin.[2]


Vergleich mit Lateinamerika

Trotz alledem spielen Themen wie Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht eine erstaunlich untergeordnete Rolle im grenzübergreifenden Diskurs zwischen Lateinamerika und Europa.


Ein Umstand der sich sozusagen über einen Umweg bald ändern könnte:

Auch heute noch, Jahrzehnte nach Überwindung der Bipolarität, welche die internationalen Beziehungen zu Zeiten des Ost-West-Konflikt entscheidend prägte, gilt jener politische Inhalt, der es auf die Agenda einer Pressekonferenz des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika oder dessen Stellvertreters schafft, als zumindest bedingt weltpolitisch bedeutend. Für den Gegenstand der hier vorliegenden Arbeit, die Jugendkriminalität und das Jugendstrafrecht in Guatemala, El Salvador und Honduras, ist es also mehr als nur bemerkenswert, dass beide, der Präsident und der Vize-Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, sich im Sommer 2014 kurz nacheinander öffentlich zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Zentralamerika einließen.[3]


Natürlich geschah dies nicht aus wissenschaftlichem Interesse heraus, sondern vielmehr, da die Lage in den zentralamerikanischen Staaten ihrerseits eine wenigstens mittelbare Wirkung in den Vereinigten Staaten von Amerika zeitigte, die zu einem innenpolitischen Problem für die Regierenden avanciert war: Allein zwischen Oktober 2013 und Juli 2014 wurden laut dem U.S. Department of Homeland Security entlang der Grenze zu Mexiko 52.000 unbegleitete minderjährige Migranten, die ganz überwiegende Mehrheit von ihnen aus einem der 3 zentralamerikanischen Staaten stammend, bei dem Versuch aufgegriffen der Gewalt und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat zu entfliehen. Im Vergleich zum Vorjahr stellte dies eine immense Steigerung dar[4], was sicherheitspolitische Bedenken und Kritik an der Einwanderungspolitik der Obama-Regierung laut werden ließ und das agenda setting erklären dürfte. Dabei ist das Thema der Rechte junger Menschen in Zentralamerika oder die Menschenrechtslage in der Region ganz generell keineswegs ein unterbelichtetes Thema. Eine Vielzahl mehr oder weniger populärer Akteure von zivilen NGOs über staatliche Organisationen nationaler und internationaler Art (UNO/OAS/EU) bis hin zu Vertretern der Wissenschaft beteiligen sich seit Jahren am Diskurs auch zu den Rechten jugendlicher Straftäter. Zudem rückte gerade in den letzten Jahren das Thema der Delinquenz generell und der zentralamerikanischen Jugenddelinquenz ins Spezielle besonders in den USA aber auch in Europa vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit, da angesichts der Internationalisierung der Drogenkriminalität und dem augenscheinlichen Unvermögen der nationalen Regierungen dem Problem Herr zu werden, viele die Lage in Zentralamerika und Mexiko mehr und mehr als Bedrohung nicht nur für die nationalen Sicherheit der lateinamerikanischen Staaten empfinden.


Überrepräsentation von Jugendlichen

Jugendliche sind weltweit in Gewalt- und Kriminalstatistiken sowohl als Täter als auch Opfer überrepräsentiert.[5] Es ist somit wenig verwunderlich, dass Jugendliche Delinquenz gleichermaßen in den entwickelten Staaten als auch in den Entwicklungsländern Ängste und Besorgnis erregt. Während in den entwickelten Staaten vor allem die vermeintliche Verjüngung der Delinquenz auf Täterseite für Beunruhigung sorgt, wächst in einigen Entwicklungsregionen die Angst vor der anscheinend stetig steigenden Kriminalitätsbelastung an sich. Jugendliche Delinquenz stellt sich jedoch weltweit als ein derart komplexes Phänomen dar, dass eine detaillierte Betrachtung der verschiedenen Erscheinungsformen, Schweregrade und Veränderungen unumgänglich erscheint für ein tieferes Verständnis der Strukturen, Bedingungsfaktoren und Entwicklungstendenzen der Jugendkriminalität. Ganz allgemein gesagt kann dabei die Beschreibung der Besonderheiten der Jugenddelinquenz auf verschiedenen Erkenntnisebenen ansetzen. Die Ermittlung der „wirklichen“, von Selektionsprozessen der staatlichen Kontrollinstanzen unbeeinflussten Struktur der Jugendkriminalität ist nur im Rahmen der Dunkelfeldforschung zu bewerkstelligen. Gleichwohl sollte hieraus nicht geschlussfolgert werden, dass sich die Analyse der amtlichen Kriminalitätsdaten erübrige. Der Vergleich der Ergebnisse der Dunkelfeldforschung mit dem amtlich registrierten Hellfeld der Jugendkriminalität hat nämlich gezeigt, dass die wesentlichen Strukturen der Delinquenz auch im Hellfeld abgebildet werden.[6] Hinzu kommt, dass nicht allerorts Daten aus Täter- und Opferbefragungen im gleichen Maße verfügbar sind.


Normalität, Ubiquität und Episodenhaftigkeit der Jugendkriminalität

Die Erforschung der nicht registrierten Jugendkriminalität führte in zahlreichen Studien zu ähnlichen Ergebnissen, sodass heute einige ihrer Thesen als gesicherte Befunde gelten. Demnach sind die prädominanten Kennzeichen jugendlicher Delinquenz deren Normalität und Ubiquität. „Normal“ ist die jugendliche Delinquenz im statistischen Sinne, da Jugendliche regelmäßig eine oder mehrere Straftaten im Rahmen ihres Sozialisationsprozesses begehen. „Ubiquitär“, da alle gesellschaftlichen Schichten hiervon betroffen sind. Besonders gut sichtbar wird die Normalität und Ubiquität der jugendlichen Delinquenz in Längsschnittdaten, beispielsweise in der in Duisburg seit 2002 durchgeführten Panelstudie Kriminalität in der modernen Stadt (CRIMOC)[7]: So berichteten in Duisburg 84 % der Jungen und 69 % der Mädchen, zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr zumindest schon einmal ein Delikt begangen zu haben, bei Gewaltdelikten (ganz überwiegend einfachere Körperverletzungen ohne Waffe) waren es ebenfalls hohe Anteile von 61 % bzw. 37 %.[8] Ein weiteres Forschungsergebnis verschiedener Dunkelfeldstudien ist die sog. Episodenhaftigkeit von Jugenddelinquenz. Das auch mit dem Begriff der „Spontanbewährung“ umschriebene Phänomen meint die kriminologische Erkenntnis, dass die allermeisten Personen, die im Verlauf ihrer Jugend straffällig werden sich ab einem gewissen Alter unabhängig von polizeilicher oder justizieller Intervention gesetzeskonform verhalten und später nicht zu delinquenten Erwachsenen werden.[9]


kein unmittelbarer strafrechtlicher Handlungsbedarf

Auch dieser Befund wurde von der Duisburger Studie bestätigt, da die Kriminalität im Altersverlauf bei allen Deliktsarten nach einem steilen Anstieg gegen Ende des Kindesalters bereits im Jugendalter wieder deutlich zurück ging.[10] Da dies in der Hauptsache auf informelle Kontrollprozesse bzw. auf eine erfolgreiche Normsozialisation in der Familie, Schule oder in den Peer Groups zurückzuführen ist[11], lässt sich schlussfolgern, dass das bloße Vorkommen von Delinquenz im Kindes- und Jugendalter in der Mehrzahl der Fälle noch keinen unmittelbaren strafrechtlichen Handlungsbedarf bedeutet.


[1] Die Form „jugendliche Mitglieder“, ebenso wie „Jugendlicher“, „jugendlicher Straftäter“ o. Ä. sind hier stets geschlechtsneutral zu verstehen, sofern sich nicht aus dem Kontext etwas anderes ergibt. Die Entscheidung für die grammatikalisch maskuline Form war allein der besseren Lesbarkeit des Textes geschuldet und kein Ausdruck jedweder anderweitiger Überlegungen.


[2] Vgl. Heinz 2003, S. 6.


[3] Den Anfang machte der Vize-Präsident der USA Joe Biden am 21. Juni 2014 anlässlich einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem guatemaltekischen Staatschef Otto Peréz Molina und einem Treffen mit Salvador Sánchez Cerén, Präsident El Salvadors, und Vertretern der Regierungen aus Mexiko und Honduras. Biden führte die massenhafte Einwanderung unbegleiteter Minderjähriger in die USA v.a. auf Armut, Gewalt und fehlende Rechtstaatlichkeit in der Region zurück und sagte seinerseits zusätzliche Entwicklungshilfe in Höhe von 255 Millionen US-Dollar zu, welche mehrheitlich in den Ausbau von Bildungs- und Menschenrechtsprogrammen sowie den Ausbau des Justiz- und Sicherheitswesens fließen sollten. Im Juli 2014 folgte Barack Obama seinem Stellvertreter nach, indem er sich direkt an die Eltern in Zentralamerika wandte und an diese appellierte ihre Kinder nicht auch noch zu der lebensgefährlichen Reise zu ermuntern, wobei er unmissverständlich klarstellte, dass die Kinder nicht in den USA bleiben könnten, sondern in ihre Heimatländer zurückgeschickt würden, auch wenn sie ohne Begleitung reisten. Vgl. http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-06/joe-biden-einwanderung-mittelamerika bzw. http://www.spiegel.de/politik/ausland/obama-warnt-eltern-in-mittelamerika-kinder-in-die-usa-zu-schicken-a-977962.html (Stand 21.07.2014).


[4] Die selbe U.S.-Behörde verzeichnete im gesamten Jahr 2012 lediglich 24.000 minderjährige Aufgegriffene an der Grenze der USA zu Mexiko, was sie 2014 schließlich dazu veranlasste, eine aggressive Aufklärungs-Kampagne auf Spanisch an Medien, sowie die Eltern und Verwandte potentieller minderjähriger Migranten aus Zentralamerika zu richten, um sie von der gefährlichen Reise gen Norden abzuhalten. Vgl. http://www.cbp.gov/newsroom/national-media-release/2014-07-02-000000/cbp-commissioner-discusses-dangers-crossing-us (Stand 21.07.2014).


[5] Vgl. UNODC et al. 2007, S. 61.


[6] So etwa der Geschlechtsunterschied und die geringe Zahl der Mehrfach- und Intensivtäter vgl. Meier 2013, S. 54., Anders hingegen Mansel 1999 zitiert nach Teichert 2010, S. 9.


[7] Die Verlaufsstudie Kriminalität in der modernen Stadt (CRIMOC) wurde in Münster von 2000 bis 2003 (zu Beginn 1.949 Befragte) und wird in Duisburg seit 2002 (zu Beginn 3.411 Befragte) mit jährlichen Befragungen derselben Personen (sog. Panelstudie) durchgeführt. Bei der ersten Erhebung waren die Befragten in beiden Städten im Durchschnitt 13 Jahre alt. Mit einem solchen Studiendesign können der Verlauf und die Entstehungsbedingungen der Delinquenz in unterschiedlichen Lebensphasen analysiert werden. Die Delinquenz wurde dabei sowohl für das Dunkelfeld (Täterbefragungen und Opferbefragungen) als auch für das Hellfeld der Kriminalität (polizeilichen Registrierungen, Verfahrenseinstellungen und Verurteilungen) erhoben. Die hier vorgestellten Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf das durch die sog. selbstberichtete Delinquenz erhobene Dunkelfeld der Jugendkriminalität. Vgl. Boers et al. 2010, S. 1 f..


[8] Vgl. Ergebnisse der Duisburger Verlaufsstudie Kriminalität in der modernen Stadt (CRIMOC), abrufbar unter: http://www.uni-bielefeld.de/soz/krimstadt/portrait/ergebnisse.html (Stand: 26.11.2014).


[9] Vgl. Ibd., S. 51. ähnlich auch UN Fact Sheets on Youth.


[10] Vgl. Boers et al. 2010, S. 3.


[11] Vgl. Ibd., S. 5.

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